Der 31. Mai 1970 begann mit einem eisigkalten Morgen, obwohl die Sonne schien und sich ein heißer Tag ankündigte. Juana startete gleich nach dem Frühstück mit dem Aufstieg. Inzwischen brauchte sie für den Weg doppelt so lange. Das Gewicht ihres Bauches machte ihren Gang von Tag zu Tag schwerer und die Mittagshitze holte sie immer früher ein. Auf halbem Weg zog Juana ihren Wollpullover aus. Sie verstaute ihn in dem bunten Tragetuch, das sie sich auf den Rücken band. Aus dem hellen Strohhut, der ihren Kopf schützte, fielen die langen, schwarzen Zöpfe über das Tragetuch. Am Mittag brannte die Sonne. Juana schwitzte trotz der dünnen Baumwollbluse. Sie hielt den Durst kaum noch aus und war froh, als sie endlich den kleinen Wasserfall entdeckte. Klares Quellwasser spritzte den Hang hinab. Juana formte ihre Hände zu einer Kuhle, fing das kühle Naß auf und schlürfte es genüßlich. Es tat gut. Vom Wegrand pflückte sie eine Blüte von kräftigem Orange und schmückte damit ihren Hut. Dann setzte sie sich auf einen großen Stein. Ihr Blick schweifte hinab auf das Dorf, wo ihre Hütte jetzt nicht mehr zu erkennen war, auch nicht die Hütte der Nachbarin, in deren Obhut sie ihre beiden Söhne gelassen hatte. Nahm sie Ricardo und Teodoro mit, musste sie sie ständig antreiben, brauchte noch länger und kam vollkommen erschöpft auf der Weide an.
Links zog der Hang Juanas Blick in die Tiefe, über abschüssige Äcker, die von leuchtend gelben Blumen umrahmt waren. Am unteren Rand verstellten hohe Eukalyptusbäume die Sicht. Dahinter rauschte der Fluß. Juana fiel auf, wie steil der Abhang zum Flusstal war. Ihr wurde schwindelig. Das Baby bewegte sich unruhig in ihrem Leib. Als wolle sie es beruhigen, streichelte sie über ihren Bauch. Um sich vom Schmerz abzulenken, schaute sie in die Ferne. Ihre Augen folgten der Straße, die zum Fluß hinab und von dort wieder bergauf führte, um sich zwischen den Dörfern auf den gegenüber liegenden Bergrücken zu verlieren. Von Mauro wusste Juana, dass die Straße hinter den Dörfern weiterging, in neue Täler hinab und auf neue Berge hinauf. Sie führte durch Gegenden, in denen die Menschen riesige Löcher in die Erde gegraben hatten und mit Monstermaschinen pures Gold aus ihren Eingeweiden herausholten. Fuhr man noch weiter, gelangte man zu einem Fluss, der zehnmal so breit war wie der des Dorfes und aus dessen Wasser die Menschen Strom herstellten. Diesen Strom brauchten die Städte und die Bergwerke.
Juana merkte, wie müde sie war. Sie hatte kaum geschlafen, denn die ganze Nacht hindurch hatte das Baby geboxt und getreten. Dabei würden bis zur Geburt noch mehrere Wochen vergehen. Plötzlich aber verflog Juanas Müdigkeit, als sie entdeckte, dass das Obst zu reifen begann. Die Bäume würden bald Äpfel tragen, herrlich süße Äpfel, die ihre Kinder so gern aßen. Juana fühlte sich auf einmal frisch und entschied, den steileren, aber kürzeren Weg über die Äcker zu nehmen.
Sie stand auf, eilte beschwingt auf die Böschung am rechten Wegrand zu. Sie krallte sich an einem Grasbüschel fest. Gerade wollte sie sich hinaufziehen, da verpasste das Baby ihr einen so heftigen Tritt, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Sie rutschte. Neben einem dornigen Strauch fand sie sich wieder. Beine und Hände bluteten. Das Tragetuch hatte sich von ihren Schultern gelöst und die Blechkanne, in die sie die Milch beim Melken fließen lassen wollte, schepperte den Hang hinab. Juana versuchte, sich aufzurichten, rutschte aber erneut und landete bäuchlings auf dem Pfad. Sie fürchtete, dem Ungeborenen könne in dieser Lage Schaden zugefügt werden. Deshalb drehte sie sich unter großen Schmerzen. Sie lag noch auf dem Boden, als sie sah, wie ihre beiden Kühe auf sie zu rasten. Noch nie hatten die Tiere sich von der Weide entfernt. Jetzt näherten sie sich ein Stück und dann warf irgend etwas sie wieder zurück. Es war, als hoppelten sie. Gerade hatte Juana sich mühsam gesetzt, da hasteten die Rinder an ihr vorbei. Sie schienen sie nicht erkannt zu haben. Sie waren wie toll. Sie galoppierten bergab ins Dorf. Dort sah Juana die Bauern aus ihren Hütten stürmen und zum Friedhof rennen. Hunde bellten, nein heulten. „Ricardo! Teodoro!“ Juana rang ihre Arme, ihre Hände zum Gebet. „Mein Gott, meine Kinder!“ Das Kind in ihrem Bauch trat wie wild. Hunde folgten den Menschen. Juana konnte nicht erkennen, ob ihre Söhne unter den Laufenden waren. Die Erde brummte, bäumte sich auf, hob Juana hoch, schaukelte sie und schleuderte sie auf einen Acker am Hang. Juana klammerte sich an einen Stein. Der riss sich vom Hang los. Sie rollte auf den Fluss zu, blieb aber zum Glück auf halber Strecke auf einem Feld liegen. Der Fluss brauste böse, gewaltig, wie ein Ungeheuer.
Die Bauern waren auf dem Friedhof angekommen. Ihre Schreie und das Jaulen der Hunde vermengten sich mit dem Dröhnen in der Luft, das mächtiger wurde. Unter den Menschen, die nur noch kleine Punkte waren, suchte Juana ihre Söhne. Doch es war unmöglich, sie zu erkennen. „Gott, gib acht auf sie!“ Das Rumoren im Boden wurde stärker. Am Himmel war die Sonne verschwunden. Das Firmament war düster. Das Dorf lag im Nebel. Vielleicht waren die Alten und Schwachen noch in ihren Hütten. In Juanas Leib krampfte sich alles zusammen. Eine Wehe ließ sie brüllen. Als die Wehe abflaute, war es dunkel um Juana herum. „Meine Söhne! Jesus, steh ihnen bei!“ Juana wand sie sich vor Schmerz. Von den Hängen löste sich Geröll. Ein riesiger Stein bewegte sich auf sie zu. Sie duckte sich zur Seite, als der Brocken haarscharf an ihr vorbei rollte. „Gott im Himmel! Du hast mich gerettet!“ Auf irgendeinem Feld stießen Schafe ein verzweifeltes Blöken aus. Im Tal klatschte der Fels in den Fluss. Die Luft war voller Staub. Juana hustete. Es kratzte in ihrem Hals. Ihr war übel. Das Baby in ihrem Bauch trat wie wild. Für einen Moment lichtete sich der Himmel und Juana beobachtete, wie von einem Gipfel eine Schlammlawine auf das Dorf zurollte. „Vater im Himmel, rette uns! Teodoro, Ricardo!“ Das Dröhnen im Boden schwoll an. Hinter einer Wand aus aufgewirbeltem Schmutz erkannte Juana, dass ein Stück Gletscher aus dem mächtigsten Berg der Gegend herausbrach. Krachend stürzte es ins Tal. „Heiliger Gott!“ Dort unten befand sich eine Stadt. Jedesmal, wenn Mauro von der Arbeit im Elektrizitätswerk zurückkehrte, fuhr er durch diese Stadt. Juana wälzte sich am Boden. Der Schmerz wollte ihr den Leib zerreißen. „Mauro! Gott lass Mauro nicht sterben!“ flehte sie. „Das Kind braucht seinen Vater!“
Der Bus keuchte den Hang hinauf. Hinter ihnen riss es die Straße den Berg hinab. Ein tiefes Loch klaffte. „Schneller, fahr schneller!“ Die Passagiere feuerten den Busfahrer an. Dem zitterten die Hände. Als Mauro sich umschaute, sah er, wie ein ganzes Dorf unter einer Schlammlawine begraben wurde. „Jesus Christus, lass mich nicht sterben!“ Der Bus stoppte. Vor ihnen gähnte ein Abgrund. „Mein Gott! Er hat es rechtzeitig gesehen. Sonst wären wir alle tot gewesen“ seufzte eine Frau. Das Kind in ihren Armen weinte. „Vater unser....“ begannen einige Passagiere zu beten. „Steigt aus!“ brachte der Busfahrer hervor. Die Passagiere stürzten aus dem Bus. Im nächsten Augenblick hob der Boden den Bus in die Höhe als sei er ein Spielzeug und schleuderte ihn in die Tiefe. Auf der Schotterpiste purzelten die Reisenden durcheinander. Der Boden war wie ein tobendes Meer. Er hob sie hoch und ließ sie wieder fallen. Sie schrieen, als sie sahen, wie ein gewaltiger Eisblock in einen See stürzte und das Wasser überlief, direkt auf die Stadt zu. Es war keine viertel Stunde her, dass sie in der Stadt Halt gemacht und überlegt hatten, ob sie eine Mittagspause einlegen sollten. „Gott, du hast uns gerettet! Lass Juana und die Kinder auch leben!“
Juana kroch auf allen Vieren auf ein ebenes Feld und schaffte es, sich zu setzen. Doch da packte sie eine Wehe, die heftiger war als alle vorherigen. Juana schrie und kippte in einen Strauch. Als sie zu sich kam, lag sie auf dem Boden. Das Rumoren der Erde hatte aufgehört. Solche Zornesausbrüche der Erde lösten manchmal Frühgeburten aus. „Heilige Jungfrau, steh mir bei! Vielleicht muss ich mein Kind hier oben auf diesem windigen Berg zur Welt bringen.“ Juana nahm die Hockstellung ein und presste. Sie versuchte, weiter zu atmen. Wie wichtig das Atmen war wusste sie von Ricardos und Teodoros Geburt. Sie presste, wieder und wieder, jedesmal, wenn ihr Körper ihr ein Zeichen dazu gab, bis die Schmerzen zu gewaltig wurden. Sie schrie, brüllte, wollte verrückt werden. Sie konnte nicht mehr pressen, wollte sich auf den Boden fallen lassen, von der Erde verschluckt werden. Sie wollte aufgeben. Sterben wollte sie. Ihre Kraft war am Ende. Sie stöhnte, leise, wütend. „Ich will nicht mehr!“ Sie hielt die Hockstellung nicht mehr aus. Ihr Kopf sank auf die kalten Steine. Sie war am Ende. Da spürte sie das warme Köpfchen zwischen ihren Beinen. Es gelang ihr, noch einmal zu pressen. Sie merkte, wie das kleine Wesen sich aus ihrem Körper zwängte. Sie weinte vor Freude und Schmerz.
Beim Anblick des in die Tiefe stürzenden Busses samt dem Fahrer erstarrten die Passagiere. Einige hielten sich die Hände vor den Mund, andere bedeckten die Augen mit ihren Handflächen. „Los!“ rief einer. Die Reisenden taumelten ziellos umher. „Los! Wir müssen los!“ sagte derselbe Mann. „Wir müssen auf die andere Seite jenes Berges.“ Ungläubig starrten sie auf den Gipfel. Der Himmel über ihnen war dunkelgrau. Langsam kamen sie zu sich, reihten sich in einen schweigenden Gänsemarsch und begannen den Aufstieg. Die Frauen, die ihre Babys auf den Rücken trugen, hatten es am schwersten. Aber schlimmer als der steile Weg war der Schrecken über das Geschehene. Manchmal feuerte einer der Männer sie an, denn sie wollten den Pass vor Einbruch der Dunkelheit überqueren. Während sie marschierten, wanderte Mauros Blick über die Bergrücken. Die Dörfer schienen noch intakt zu sein. Er dachte an Juana und an seine beiden Söhne, an seine gefährliche Arbeit beim Elektrizitätswerk, bei dem ihm nie etwas passiert war, und an die Kollegen, die nicht mehr lebten, weil der Strom sie erwischt, erschlagen und verkohlt hatte. Der elektrische Strom, der ihm immer so unheimlich gewesen war. Aber das hier war tausendmal schlimmer.
„Juana, hast du das Kind schon zur Welt gebracht?“ Maria, die Ayacuchanerin keuchte, als sie bei Juana ankam. Sie bückte sich und durchtrennte mit einem spitzen Stein die Nabelschnur. Maria hatte Erfahrung. Schließlich hatte sie sechs Kinder geboren. „Was ist es?“ fragte Juana. „Ein Mädchen.“ Glück und Erleichterung lagen in Marias Stimme, als sie ihren Stoffgürtel löste und ihn Juana blitzschnell um den Leib schnürte. „Damit der Windgeist nicht in deinen Körper dringt.“ Juana schrie auf, als Maria den Gürtel festzurrte. „Juana, wie hast du das geschafft! Der Himmel hat dir beigestanden.“ Maria legte das Baby in Juanas Arme. Es weinte. Juana umschloss es mit den Armen und drückte es an ihre Brust. Es sollte sich in dieser Welt geborgen fühlen. Wie in weiter Ferne vernahm Juana Marias Murmeln, unverständliche Worte, die sie kurz darauf nicht mehr hörte. Es wurde dunkel um sie herum. Die Welt verschwand.
Ganz Lima hielt den Atem an. Aus dem Radio erfuhren die Menschen, dass Felsblöcke sich aus dem höchsten Berg der Anden gelöst hatten. Diese waren in die Bergseen gerollt und die waren übergelaufen. Dann hatte das Wasser Dörfer mit all ihren Bewohnern in die Tiefe geschwemmt. In der Stadt Yungay hatten die einstürzenden Häuser an einem einzigen Nachmittag 100,000 Menschen begraben.
Bei der ersten Nachricht beschloss Jacinta, ins Dorf zu reisen. Zuerst wollte ihr Mann sie nicht weglassen. Dabei gab es doch nichts Wichtigeres, als in Erfahrung zu bringen, ob Juana, ihre ältere Schwester, überlebt hatte. Jacinta nahm den vier-Uhr-Bus und erreichte am späten Nachmittag die letzte Küstenstadt. Die Häuser leuchteten nicht mehr in den fröhlichen Farben, die sie auf der Durchreise vor zwei Jahren so beeindruckt hatten. Sie waren blass geworden, als wollten sie Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Reisenden spiegeln. Der Bus bohrte sich in den Berufsverkehr, blieb mehrmals im Stau stecken, so dass kostbare Zeit zerrann.
Endlich verließen sie die Stadt. Vor ihnen öffnete sich die Ebene, die ein Fluss, der in den Anden entsprang, in zwei Hälften teilte. Auf den Feldern bauten die Bauern immer noch Zuckerrohr an. Der damals so gemächliche Fluss hetzte jetzt mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit dem Meer entgegen. Er war aufgewühlt, als wolle er Unheil verkünden. Während der Bus über die löchrige Straße durch die Ebene holperte und das Meer in der Ferne allmählich zu einem schmalen Strich wurde, bis es ganz verschwand, atmete Jacinta tief. Bald würde sie im Gebirge ankommen und dann würden es noch wenige Stunden sein bis in ihr Dorf. Aber die asphaltierte Straße verwandelte sich in eine Schotterpiste und der Bus verlangsamte seine Fahrt. Der Motor quälte sich die Anden hinauf, vorbei an kahlen Hängen und Schluchten, die die Dunkelheit irgendwann verschluckte.
Erst im Morgengrauen trafen die Reisenden in der 3000 Meter hoch gelegenen Provinzhauptstadt ein. Vor fünfeinhalb Jahren war Jacinta mit ihrer Schwester Juana zum Patronatsfest hierher gekommen. Damals waren die Straßen voller Leben gewesen. Einheimische und Pilger hatten die Stadtpatronin mit Lärm und Pomp hochleben lassen. Die Schwestern hatten an der Prozession teilgenommen und waren gemeinsam mit den anderen Gläubigen unter den weiten Mantel der Gottesmutter gekrochen, um ihr ihre Nöte und geheimen Wünsche anzuvertrauen. Anschließend waren sie mit neuen Hoffnungen in ihr Dorf zurückgekehrt und 1968 war Jacintas Wunsch in Erfüllung gegangen. Jetzt lag eine fast erdrückende Schwermut über der Stadt. „Virgen de las Puertas, gib, dass meine Schwester Juana und ihre Kinder leben!“
Jacinta spürte, wie erschöpft sie war von der Sorge um ihre Schwester, die sie zermürbte, und auch von der anstrengenden, langen Reise. Ihr Körper schmerzte überall. Aber mehr noch vermisste sie ihre einjährigen Zwillinge, die sie bei ihrer Schwiegermutter in Lima gelassen hatte. Sie hatte sich dazu durchgerungen, weil kleine Kinder auf langen Reisen krank wurden. Viele bekamen Durchfall; manche starben sogar daran. Jacinta seufzte.
Als sie die Provinzstadt verließen, erkannten Jacintas der Gebirgslandschaft entwöhnten Augen die Dörfer zunächst nicht. Die Lehmziegel, aus denen die Hütten errichtet waren, hatten dieselbe braune Farbe wie die Äcker und die Steinblöcke, die als Fundamente dienten, erschienen ihr wie der graue Fels, der überall aus den Bergen herauswuchs. Langsam jedoch fing sie an, die Umrisse der Wohnungen zu identifizieren und schließlich entdeckte sie auf einer Bergkuppe ihr Dorf. Als sie Juanas Hütte sah, wollte sie ihr Glück hinausschreien.
Juana wachte auf der Trage auf, mit der vier kräftige Männer sie ins Dorf gebracht hatten. Sie spürte einen kleinen warmen Körper an ihrem. Ricardo und Teodoro hopsten freudig durch die Hütte und riefen: „Da ist unser Baby!“ Jacinta hielt Juanas Hand. Die Hand der Schwester war warm. Juana suchte den Raum nach Mauro ab. Jacinta drückte ihre Hand fester. „Sei ruhig! Dein Mann kommt bald“ flüsterte sie. „Gib mir das Baby!“ Juana sah mit halb geöffneten Augen zu, wie die Schwester das Baby nahm. Sie hörte Wasser plätschern. Sie beobachtete, wie Jacinta das Mädchen badete und es in saubere Tücher wickelte, wie eine Nachbarin ihm Anistee einflößte, wie Maria die Stirn des Kindes befühlte. „Der Tee wird die Kälte aus dem kleinen Körper vertreiben“ sagte die Nachbarin. Das Baby weinte und Maria streichelte Juanas Wange zärtlich. „Dein Kind hat nicht die Schreckenskrankheit“ erklärte sie, während sie die Stirn des Mädchens noch einmal prüfte, bevor sie es in Juanas Arme zurücklegte. Nachdem das Kind sich beruhigt hatte, fragte Juana wieder: „Wo ist Mauro?“ Da begann Jacinta zu singen: „Erlenbaum, ach Erlenbaum, er taucht nicht auf...“ Ihre Stimme klang sehnsuchtsvoll, wie die von Alicia Delgado. „Mauro?“ stieß Juana hervor. Jacinta bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie könne beruhigt sein und sang kräftiger. „Wo ist Mauro?“ Juanas Frage bohrte sich in den Gesang. Sie hob ihren Kopf, was sie große Mühe kostete, und suchte ihren Mann unter den Anwesenden. Dann sank ihr Kopf wieder auf das Bett. Jacinta streichelte ihre Hände. „Sei unbesorgt!“ sagte die Schwester und fuhr mit dem Singen fort. Maria und die Nachbarin fielen in den Gesang ein. Im Dorf kannten alle den Wayno, in dem eine Frau vergebens Ausschau nach ihrem Lebensgefährten hielt. Alicia Delgados Stimme war auf vielen Kassetten in die abgelegensten Dörfer gereist. Juana hatte den Wayno viele Male gehört. Sie mochte die Sängerin, eigentlich ihre Lieblingssängerin. Während der Schwangerschaft hatte sie den Wayno vom Erlenbaum manchmal gesungen. Dabei hatte sie die Sehnsucht nach Mauro ganz stark gespürt. Damals wurde der Wayno oft im Radio gespielt. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie hatte das Lied zum ersten Mal in jener Nacht gehört, in der Mauro das Kind gezeugt hatte. Er hatte das Radio angelassen und sie hatten dem Wayno gelauscht. Süße Erinnerungen tanzten in Juanas Kopf. Die Hütte war erfüllt von der Melodie des Liedes. „Mein Mädchen soll 'Alicia' heißen.“ In Juanas Stimme lag Seligkeit.
„Hier ist das Wayruro. Es ist aus Marias Laden. Maria schenkt es dir.“ Juana liebkoste mit ihren Händen die kleine rote Frucht mit dem schwarzen Auge, die Jacinta ihr am folgenden Tag brachte. Tränen rannen über ihre Wangen. Dann band sie ihrem Mädchen die Dschungelfrucht, mit der die Bauern ihre Babys vor Bösen Blicken und Verwünschungen schützten, mit einem dünnen Faden um den Hals.
Am vierten Tag nach der Geburt wurde Juana unruhig. Ihr war, als erwache sie aus einem tiefen Traum. Erst jetzt begriff sie, was geschehen war und dass ihrem Mann etwas zugestoßen sein konnte.
Sie erreichten den Pass bei Einbruch der Dunkelheit. Den Abstieg wollten sie erst am nächsten Morgen wagen. Mauro nickte einige Male ein, wachte aber immer wieder auf und spürte jedesmal, wie entsetzlich er fror. Endlich befreite die aufgehende Sonne die Reisenden von der nächtlichen Kälte. Allerdings wartete der Morgen mit einem neuen Schrecken auf. Auf der anderen Seite der Gebirgskette hatte das Beben sämtliche Dörfer und alle Wege fortgerissen. Sie mussten also umkehren. Vor Sonnenuntergang gelangten sie ein Lager, in dem man ihnen Decken und warmen Kaffee gab.